Heile Familie?
Die Kleinfamilie gilt in unserer Gesellschaft als Ideal, trotz steigender Scheidungs- und Trennungsraten. Die Frauenforscherin und Politikwissenschafterin Mariam Irene Tazi-Preve erklärt in ihrem Buch „Das Versagen der Kleinfamilie“ (2018) , weshalb diese Form der Familie zum Scheitern verurteilt ist, wie Mütter darunter leiden und welche Alternativen es gibt.
2023 wurden in Österreich 14 721 Ehen rechtskräftig geschieden, rund fünf Prozent mehr als 2022. Etwa 17.400 Kinder aller Altersstufen waren von der Ehescheidung ihrer Eltern betroffen. Die Zahl der Trennungen unverheirateter Paare ist nicht bekannt. Die Geburtenrate dagegen sinkt seit Jahren beständig – mit Ausnahme des Coronajahres 2021. Dazu kommt, dass die Familie nicht zwangsläufig ein Hort der Liebe ist, wie Statistiken zeigen: Gewalt an Kindern und Jugendlichen geschieht überwiegend im Bereich der Familie und erfolgt durch Täter, die bekannt und vertraut sind. Wie passt das zum allseits propagierten Ideal der „heilen Familie“?
Pater Familias
„Es gilt zu verstehen, dass hier nicht ,Normalität’ am Werk ist“, schreibt Mariam Irene Tazi-Preve in ihrem Buch „Das Versagen der Kleinfamilie“. Das Familiensystem folge vielmehr einer konstruierten Form. Die Autorin erklärt, dass das Grundschema der Kleinfamilie auf einer juristischen Finte der Römer beruhe: „Es sollte etwas sichergestellt und amtlich besiegelt werden, das gar nicht sicher sein konnte, nämlich die Vaterschaft – während die Mutterschaft ja immer augenscheinlich war. Die Ehe begründete rechtlich die Hoheit des ‚pater familas‘ über die Früchte seines Landes, seines Haushalts und ‚seiner Lenden“.
Was bei den Römern vielleicht noch zeitgemäß war, wird nun zunehmend in Frage gestellt. „Im Vater-Mutter-Kind-Dreieck sind erotische Anziehung, ökonomische Abhängigkeit und das Aufziehen von Kindern miteinander verknüpft“, schreibt Tazi-Preve. „Die Grundannahme dieser Konstellation – die lebenslange Liebesbeziehung – hält aber der Realität des Alltags nachweislich nicht stand.“ Die patriarchale Mutter müsse dem Ideal der heterosexuellen Beziehung folgen, am besten in der Ehe, die angeblich für sie und ihre Kinder der sicherste Ort sei. Die Wahrheit widerspreche dem aber deutlich: „Zum einen ist die Familie der gefährlichste Ort für Frauen und Kinder überhaupt... Zum andern ist die lebenslange Liebesbeziehung nicht die Regel, sondern sie ist ganz im Gegenteil die Ausnahme.“ Ein weiteres Charakteristikum der Mutter im Patriarchat sei ihre Idealisierung, gerade im deutschsprachigen Raum, zugleich laste der Großteil der Verantwortung für die Kinder auf ihren Schultern. Tazi-Preve kritisiert, dass für arbeitende, also doppelbelastete Mütter Dauererschöpfung typisch sei. „Mütter haben also Optionen, von denen keine wünschenswert ist: Die erste ist die der Hausfrau, die ihr gesamtes Leben vom Ehemann abhängig bleibt..Die zweite Option bedeutet Teilzeitarbeit, ohne damit je den Lebensunterhalt für sich und die Kinder bestreiten zu können. Frauen bleiben bei diesem Modell weiterhin von Ehemann oder staatlichen Leistungen abhängig.“ Die dritte Wahlmöglichkeit sei die Vereinbarung von Vollzeiterwerbstätigkeit mit Mutterschaft und Haushalt – „was zumeist eine völlige Überforderung darstellt.“ Tazi-Preve spricht hier von der „Vereinbarkeitslüge“: „Das Problem ist nämlich, dass Erwerbssystem und Kleinfamilie nach gänzlich konträren Logiken funktionieren. Der Arbeitsmarkt ist charakterisiert durch Kosten-Nutzen-Kalkül und Konkurrenzdenken als Grundprinzipien der Wirtschaft.. Im Gegensatz dazu benötigt das Familienleben Stabilität und ist Ort der emotionalen Zuwendung und Empathie..“
Matriarchat als Vorbild
Die Autorin verweist als Alternative auf matrilinear lebende Kulturen, wie es sie vereinzelt noch gibt, und bezieht sich dabei auf die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth. Das Grundprinzip der matrilinearen Familien- bzw. Clanstruktur ist die Orientierung an der Mutterlinie, die sich um die Clanmutter zentriert. „In matrilinearen Familien leben Mütter, Geschwister und Kinder zusammen oder in unmittelbarer Nähe. Der mütterliche Name wird von Generation zu Generation weitergegeben.“ Familie bedeute Verwandtschaft über die Mutter, nicht über Heirat oder einen Vater. Zu matriarchalen Gesellschaften gehören Subsistenzwirtschaft, die meist auf Garten- oder Ackerbau beruht; Land und Häuser sind im Gemeinschaftseigentum des Clans, Privatbesitz ist unbekannt. Wesentlich sei die zentrale Stellung eines familialen Haushalts, der den Rückhalt für alle erwachsenen Mitglieder darstellt und Ort der Sicherheit sowie der Erziehung der Kinder ist. Die ökonomische Versorgung wird durch den Familienclan gewährleistet. „Die sozialen Muster.. zeichnen sich durch große sexuelle Freiheit für beide Geschlechter aus“, schreibt Tazi-Preve. Die soziale Vaterschaft des Mannes bezieht sich auf die Kinder seiner Schwester und nicht auf die biologische Abstammung.“ Die Autorin nennt als Beispiel die Mosuo in China, bei denen Besuchsehen die häufigste Form der Ehe sind. „Der Ehemann erlangt niemals dieselbe Position wie der ,Mutter-Bruder’, der der ,wirkliche Mann an der Seite der Ehefrau’ ist.. Er ist der soziale Vater ihrer Kinder. In matriarchalen Gesellschaften gilt das Bruder-Schwester-Paar.. als das wichtigste Paar.“ Der leibliche Vater hat keine Verantwortung für seine Kinder.
Die Mehrgenerationen-Familie ist in matriarchalen Zusammenhängen die Normalität, die Betreuung von pflegebedürftigen und sehr alten Menschen immer garantiert. Wesentlich ist auch, dass erotische Beziehungen und Ehen nicht Teil der Familie sind, sondern als private Angelegenheiten gelten. „Hierin liegt gerade der entscheidende Unterschied zum Liebeskonzept der Moderne“, schreibt Tazi-Preve. „Liebe und Zuneigung sollen nicht mehr an die Herkunftsfamilie und an die Kinder gebunden sein.“ In patriarchalen Familien dagegen verlieren Kinder nach der Trennung ihrer Eltern häufig ihre Väter, weil „die PartnerInnen nicht zwischen Eltern- und Paarebene trennen können“, konstatiert Tazi-Preve. Das sei in matriarchalen Kulturen nicht denkbar, weil solche „Schuldzuweisungen“ nur innerhalb des patriarchalen System funktionieren.
Mariam Irene Tazi-Pravi liefert wichtige Denkanstöße für eines der dringlichsten Themen unserer Zeit. Eine Frage bleibt sechs Jahre nach Veröffentlichung ihres Buches bestehen: Wie können matriarchale Ansätze in einer patriarchalen Gesellschaft umgesetzt werden? Eine Antwort könnte die wachsende Zahl an gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensmodellen bieten. In Gemeinschaft lebende Familien unterstützen einander und wirken so der drohenden Isolation der Mütter entgegen.
Dieser Artikel wurde in der Krähe erstveröffentlicht.