An manchen Tagen packt mich eine heilige Wut: auf Menschen, die aus ihrem Wohnzimmer heraus „Krieg“ schreien und nicht bereit sind, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Die es sich wohlig eingerichtet haben in ihrer Bubble, zu der nur Gleichgesinnte Zutritt haben und in der sie mit Nachrichten versorgt werden, die ihr sorgsam gepflegtes Weltbild bestätigen.
Ich habe die Nase voll von Menschen, die keine Verantwortung übernehmen wollen und lieber auf einen Retter und Erlöser warten. Die keine eigene Meinung haben, sondern sich stattdessen Meinungsmachern anschließen.
Ich habe keine Geduld mehr mit Menschen, die sich nicht spüren und daran auch nichts ändern wollen. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es möglich ist, das Spüren wieder zu lernen – wenn man denn möchte. Ja, es erfordert Mut und Bereitschaft, in die Tiefe zu gehen und genau hinzusehen, und oft gelingt das nur mit Unterstützung.
Es gibt Tage, an denen ich alles in Frage stelle: Meine Arbeit, das Bedürfnis, aufklären und Mut machen zu wollen. Welchen Sinn hat es, wenn ich damit nur Menschen in meiner „Blase“ erreiche? Welchen Sinn hat es, für Medien zu schreiben, die nur von jenen gelesen werden, die ohnehin kritische Denker sind? Dann senkt sich eine Schwere auf mich, die mich davon abhält, meine Arbeit zu tun.
Also packe ich meine Badesachen ein, fahre zum Wasser. Trinke einen Kaffee, schreibe meine Gedanken auf. Und telefoniere mit einem lieben Freund, der mir in den letzten Jahren ans Herz gewachsen ist, weil wir dieselben Werte teilen. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die er mir aus seiner Jugend erzählte: wie er den Wehrdienst verweigerte, weil er zum Zivildienst nicht zugelassen wurde („ich war wohl zu ehrlich“). Wie er es ein zweites Mal probierte und wieder nicht genommen wurde – sich aber weiterhin weigerte, seinen Dienst beim Bundesheer anzutreten. Das zog sich jahrelang hin, spitzte sich zu, bis eine Haftstrafe wegen Wehrdienstverweigerung im Raum stand. Mein Freund blieb standhaft, bis die drohende Strafe schließlich verjährte.
Und mir wird bewusst, wie dankbar ich für all die Menschen bin, die ich in den vergangenen Jahren getroffen habe und die mein Leben verändert haben. Sie sind es, die die Welt verändern werden.
"Welchen Sinn hat es, wenn ich damit nur Menschen in meiner „Blase“ erreiche?"
Das ist wirklich die Frage. Aber nicht im resignativen Sinne: Es hat offensichtlich keinen Sinn, sondern im Sinne von: Wie kann ich mehr die Menschen erreichen, die ich bisher eher nicht erreichen würde. Wo kann ich Anknüpfungspunkte schaffen an andere Diskurse, die stärker im Mainstream stehen? (Ohne dabei manipulativ vorzugehen.) Die meisten Menschen sind ja durchaus empfänglich für eine rationalere und zugleich empathischere Sichtweise auf die Dinge, wenn man den richtigen Anknüpfungspunkt findet. Vielleicht ist es unsinnige Bürokratie, vielleicht unsinnige Krankheiten oder gesundheitliche Probleme, vllt Sport, vllt Humor...
Die meisten von uns -- ich zumindest -- waren mal stark im Mainstream verankert und haben dann zufällig doch den Weg in ganz unmainstreamige Gefilde gefunden. Bei mir sind die Quellen, an die ich mich erinnern kann ursprünglich Daniele Ganser und Telepolis gewesen, zudem natürlich ein Studium der Philosophie und Literatur, und ein tiefes Interesse daran, Dinge von vielen verschiedenen Perspektiven zu sehen, das wohl durch das Zerbrechen meiner Kindheits-Religiosität ausgelöst wurde.
Aber interessanterweise hat gerade die Corona-Pandemie gezeigt, dass Leute vollkommen unterschiedlicher Lebenswege zusammenkamen, um ihre Kritik an den Maßnahmen artikulieren zu lernen. Und Mattias Desmet, zum Beispiel, erinnert uns daran, dass in einem chaotischen System (wie menschliche Gesellschaften es sind) kleinste Veränderungen in der Peripherie gewaltige Auswirkungen auf das Ganze haben können. Das Christentum und der Islam sind dafür geschichtliche Beispiele, wie kleine Beginne die ganze Welt umkrempeln können. Wir können nicht wissen, wo der Kipppunkt zum Besseren liegt, und ob wir kurz davor sind, oder noch einen langen, steinigen, aber schönen Weg vor uns haben, um Die Ärzte zu paraphrasieren.