Kindergerechte Stadt
Griesheim, Hessen: Seit 2009 ist die Stadt mit rund 30 000 Einwohnern als erste „Bespielbare Stadt Deutschlands“ bekannt. Hinter dem Konzept steht Bernhard Meyer, Professor für Sozialplanung und Gemeinwesenarbeit. „Wie erlebt ihr die Straßen in eurem Wohnort?“ war die Frage, die er Kindern in über 70 deutschen Städten stellte. “Eintönig und langweilig“ lautete die einhellige Antwort. Meyer entwickelte ein Forschungsprojekt, dessen Ziel es war, den öffentlichen Raum für Kinder zurückzuerobern. In Griesheim wurden Grundschulkinder aufgefordert, mit Kreide ihren Schulweg zu markieren und anzugeben, wie sie zu wichtigen Orten - etwa der Sportplatz und der Supermarkt – kommen. „Dadurch haben wir begriffen, welches ihre Schulwege sind, wo und wie sie Straßen überqueren“, sagt der Sozialwissenschaftler. „Wir haben ebenfalls beobachtet, was die Blicke und Wege der Kinder dort anzieht.“ In Griesheim gilt auf allen Straßen Tempo 30 und die Rechts-vor-links-Regelung an Kreuzungen. „Zusammen mit der Gehweggestaltung und besseren Querungspunkten hatte das den Effekt, dass es hier seit mehr als 15 Jahren keine Unfälle mit Kindern im Straßenverkehr mehr gegeben hat", so Meyer. Seine Erkenntnis: „Kinder sind viel aufmerksamer, wenn sie sich nicht gelangweilt, sondern lustvoll durch den Straßenverkehr bewegen.“
Mehr Bewegung für Kinder und Jugendliche
Ein Bericht der WHO zeigt, dass 81 Prozent der Jugendlichen in Europa das empfohlene Mindestmaß von einer Stunde Bewegung pro Tag nicht erreichen. In Österreich erfüllen gar nur 17 Prozent der 11- bis 17-Jährigen diese Empfehlung. Mehr Mobilität im Alltag wäre ein Anfang.
Der Stadtplaner Jan Gehl machte die dänische Hauptstadt Kopenhagen zur Fahrradtstadt. Sein Motto: „Eine Stadt ist dann lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert. Wenn sie also nicht im Tempo des Automobils, sondern in jenem der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt.“ Seit 2016 gibt es in der Stadt mehr Fahrräder als Autos, 43 Prozent der Arbeits- und Ausbildungswege werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Für Pendler aus dem Umland wurden „Super Cycle Highways“, Fahrradautobahnen eingerichtet. Auch in der Stadt gibt es breite Radwege, oft mit Überholspuren, und eine „Grüne Welle“ für Radfahrer bei 20 km/h.
Für kinderfreundliche Städte und eine Radinfrastruktur, die auch Kinder berücksichtigt, setzt sich Kidical Mass ein. Die internationale Initiative, die ihren Namen von der Fahrradaktion Critical Mass ableitet, wurde von engagierten Eltern gegründet. Gemeinsam mit Erwachsenen fahren Kinder mit dem Fahrrad auf geschützten Wegen durch die Stadt. „Die erste Kidical Mass in Österreich fand 2018 statt, seither radeln wir zweimal im Jahr durch die Stadt“, erklärt Florian Klein, einer der Initiatoren. In bis zu 14 Städten fand die Raddemo bisher statt. Klein kritisiert die schlechte Radinfrastruktur in Österreichs Städten im allgemeinen, und besonders für Kinder. „Es bräuchte breitere Radwege, damit Kinder und Begleitpersonen nebeneinander fahren können“, fordert der Vater eines 13 jährigen Sohnes, der selbst ausschließlich mit dem Rad unterwegs ist. Die StVo-Novelle sieht vor, dass es grundsätzlich erlaubt sein wird, neben einem Kind zu fahren, außer auf Schienenstraßen. „Kinder sollten sich sicher und selbständig mit dem Fahrrad bewegen können“, so Klein. Weitere Forderungen der Kidical Mass sind mehr Radspielplätze, wo der Umgang mit dem Fahrrad geübt wird sowie sichere Abstellplätze für Lastentaxis, die für den Kindertransport genutzt werden. Auch autofreie Zonen vor Schulen gehören dazu: „Elterntaxis, die in der zweiten und dritten Spur parken, erzeugen oft gefährliche Situationen“, kritisiert Klein.
Für Bernhard Meyer, Begründer der Bespielbaren Stadt, lautet die wichtigste Frage an Stadtplaner: Haben Sie die Bereitschaft, von Kindern zu lernen, wie diese die Welt wahrnehmen? „Wenn die Antwort ja lautet, gilt es, die eigene Wahrnehmung zu ändern“, so Meyer. „Erforderlich ist ein Perspektivenwechsel, der den Blick der Kinder auf ihren Schulwegen und auf deren Spielorten als Realität in die Planungen einbezieht.“