Solidarität um jeden Preis?
Neulich in Wien, an einem Sonntag Vormittag. Ich bin unterwegs, es ist wenig los auf den Straßen. Bei einem Fußübergang überquere ich die Straße trotz roter Ampel, da weit und breit kein Auto zu sehen ist. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine ältere Frau, die mich beobachtet und auf der anderen Seite zur Rede stellt. Ob ich farbenblind sei? Auf die Frage, was sie das angehe, lautet ihre Antwort: „Wir müssen doch ein Vorbild für die Kinder sein“ (es war allerdings auch weit und breit kein Kind zu sehen).
In diesem Land ist das eine Ausrede mehr, nicht in die Eigenverantwortung gehen zu müssen. Ich stimme zu, dass Kinder in manchen Bereichen Vorbilder brauchen, in den allermeisten Fällen sind das die Eltern oder andere Begleitpersonen – die höchstwahrscheinlich bei einer roten Ampel stehen bleiben. Oder, falls nicht, den Kindern im besten Fall erklären, was es mit rot und grün auf sich hat.
In den letzten Jahren lautete das Lieblingswort derjenigen, die lieber die Verantwortung abgeben, „Solidarität“ – mit den Alten, den Schwachen, den Kranken. Es war ein hervorragendes Mittel, Menschen von eigenständigem Denken abzuhalten und Andersdenkende an den Pranger zu stellen. Auf demselben Prinzip beruht das Sozialsystem in diesem Land – wir zahlen Versicherungsbeiträge nicht nur für uns selbst, sondern auch für die anderen. Was auf den ersten Blick nach einem guten – eben sozialen - Konzept klingt, ist jedoch eine nähere Betrachtung wert.
In diesem „Gesundheitssystem“ geht es nicht um Aufklärung darüber, was Gesundheit im ganzheitlichen Sinn bedeutet und wie wir gut für uns sorgen können. Vielmehr betreibt die westliche Medizin Symptombekämpfung, anstatt nach Krankheitsursachen zu suchen. Vieles in unserem System läuft der Gesundheit zuwider, beginnend in der Schule, wo Kinder stundenlang still sitzen und zu wenig Bewegung haben; in der Arbeitswelt bleibt wenig Zeit für Regeneration und Entspannung. Es fehlt das Bewusstsein, wie wichtig etwa Aufenthalte in der Natur oder Familie und soziale Bindungen für die Gesundheit sind und dass körperliche und psychische Gesundheit eng miteinander verknüpft sind. All das wurde uns in den Corona-Jahren weitgehend verwehrt – und stattdessen auf „Solidarität“ verwiesen. Diejenigen, die in diesem Gesundheitssystem andere Wege gehen möchten, die alternative medizinische Methoden bevorzugen, bezahlen teuer dafür – ebenso wie für alternative Bildungsangebote oder nachhaltig hergestellte Produkte. Das, was unsere Gesellschaft wahrhaftig gesund hält, kostet die Bürger am meisten Geld.
Und nun also die Vorbildwirkung bei den Kindern, die in dieselbe Kerbe schlägt. Wieder die Verweigerung der Eigenverantwortung und die Verurteilung von Menschen, die es anders machen.
Vielleicht resultiert die Annahme, dass Kinder Vorbilder brauchen, auch aus einem Denken, das den Nachwuchs zu minderwertigen Menschen degradiert, denen wir Erwachsene überlegen sind. Vielleicht ist es genau umgekehrt, womöglich können wir mehr von den Jüngsten lernen, als wir uns eingestehen wollen. Vielleicht sollten wir damit aufhören, sie unseren Vorstellungen anzupassen. Kinder begreifen sehr schnell – auch dass eine rote Ampel nicht zwangsläufig Gefahr bedeutet.