Vom Ich zum Wir
Der US-Amerikaner Nipun Mehta ist einer der bekanntesten Vertreter der Schenkökonomie und Erfinder der Karma Kitchen.
„Wir können selbst entscheiden: Ist diese Welt ein freundlicher oder ein furcheinflößender Ort?“ Sätze wie diese machen Nipun Mehta zu einem beliebten Redner, der Scharen von Zuhörern um sich versammelt. Wir befinden uns im Generationencafé Vollpension im ersten Wiener Gemeindebezirk. Der US-Amerikaner mit indischen Wurzeln ist extra angereist, um sein Konzept der Karma Kitchen vorzustellen, das hier in den nächsten zwei Wochen zum Einsatz kommen soll. „Bezahl für den Gast nach dir!“ steht in großen Lettern auf einer Tafel. Die Idee hinter der Karma Kitchen beruht auf dem „Gifting forward“-Prinzip: Für jeden Gast hat bereits jemand anderer bezahlt – und man kann selbst entscheiden, wie viel man für die nächste Person auslegen möchte. „Bei Gifting Forward geht es darum, Großzügigkeit zu üben und damit tiefgehende Beziehungen zu anderen Menschen und sich selbst herzustellen“, erklärt Nipun Mehta. „Ein Besuch in einem Lokal mit diesem Modell ist kein herkömmlicher Kaffeehausbesuch, das hat eine ganz andere Energie. Es findet eine Transformation von einem Ich-Fokus zu einer Wir-Gesellschaft statt.”
Einen Unterschied machen
Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade die Vollpension die Idee der Karma Kitchen aufgegriffen hat: In dem Sozialunternehmen mit zwei Standorten in Wien werden insgesamt 80 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschäftigt, von denen mehr als die Hälfte über sechzig Jahre alt ist. Ein großer Teil der Beschäftigten lebt alleine oder ist von Altersarmut betroffen. „Dialoge zwischen Generationen zu schaffen, dabei über den Tellerrand hinauszublicken und einen positiven Impact in der Gesellschaft zu leisten, machen uns zu einem innovativen Vorreiter in der österreichischen Gastronomie“, sagt Moriz Piffl-Percevic, Mitgründer und Ideengeber der Vollpension.
Der Grundgedanke für die Karma Kitchen entspringt der Schenkökonomie oder Gift Economy, zu deren wichtigsten Vertretern Nipun Mehta zählt. Trotz einer vielversprechenden Karriere als Softwareentwickler im Silicon Valley entschied Mehta sich, einen anderen Weg zu gehen: „Diese unaufhörliche Gier als Motivationstreiber für Innovation und unternehmerisches Tun erschien mir irgendwie hohl“, sagt Mehta. Er begann, unentgeltlich für ein Obdachlosenheim zu arbeiten und rief später Service Space ins Leben, eine NGO für Freiwilligenarbeit, die heute mehr als 500.000 Mitglieder hat. US-Präsident Barack Obama holte Mehta als Berater für Armut und Ungleichheit in sein Team.
Geben statt nehmen
Zu den Hintergründen der Gift Economy befragt, verweist Mehta auf Adam Grant: Der Psychologe und Autor identifizierte drei Persönlichkeitstypen: Geber, Nehmer und die sogenannten Matcher, die sowohl geben als auch nehmen. Grants Theorie zufolge achten Geber zuerst auf das Gute für das Kollektiv, das Team, die Organisation. Sie sind ein Vorbild und motivieren die Matcher auch zum Geben. „Geber sind enthusiastisch, haben mehr Willensstärke, können andere aktivieren und machen Teams produktiver“, sagt Nipun Mehta. Werden sie zu Führungskräften, könnten Geber viel Gutes bewegen: „Sie erweitern das Wertesystem.“ So würde das Team sich stärker am Gemeinwohl orientieren.
Grant erkannte in seiner Forschung zu Leadership, dass Geber größere Vorteile hatten als die Nehmer. „Die Frage ist, wie etablieren wir eine Geberkultur?“, so Mehta. „Es wird in jedem Ecosystem stets einige Geber, einige Matcher und einige Nehmer geben. Spannend ist: gibt es in einer Gruppe einen, der kontinuierlich gibt, dann verändert sich das Verhalten der Matcher: sie werden auch zum Geber. Damit erhöht sich das Vertrauen in der Gruppe immer weiter, was wiederum die Produktivität steigert.“ Zu den bekanntesten Gebern zählen laut Mehta Mahatma Gandhi oder Mutter Teresa, die weitreichende soziale Veränderungen möglich machten.
Wegen großen Erfolges verlängert
Das Experiment der Karma Kitchen im Wiener Generationencafé Vollpension wurde wegen großen Erfolges verlängert - obwohl eine Zwischenabrechnung ein geringes Minus bei den Einnahmen ergab. „Der positive Effekt, den das Experiment auf die Menschen hat, ist viel größer als unser Verlust”, sagt Piffl-Percevic. „Einige Gäste bezahlen weit mehr, als sie selbst genossen haben. Viele zahlen in etwa gleich oder etwas weniger als der Preis auf der normalen Karte wäre, und ganz wenige gar nichts. Insgesamt ergibt sich so ein geringes Minus gegenüber einer vergleichbaren Konsumation mit einer regulären Karte.“ Zudem hatten die Gäste die Möglichkeit, nachfolgenden Besuchern eine persönliche Nachricht zu hinterlassen, um das emotionale Erlebnis noch mehr zu verstärken. „Wo bekommt man heutzutage schon eine herzliche Botschaft von einer fremden Person, die noch dazu das Essen für dich bezahlt hat - das macht schon etwas mit einem. Und wie fühlt es sich für einen selbst an, großzügig zu sein und dem nächsten etwas Gutes zu tun”, so Piffl-Percevic. Insgesamt waren die Rückmeldungen der Gäste auf das Experiment überwiegend positiv, ein Schritt in Richtung Wir-Gesellschaft ist gelungen.